Losen

2. Enquete vom 25. Februar 2024

Das Losen als rudimentäre Kulturtechnik wurde in unserer ersten Zusammenkunft zusammen mit der rituellen Kulturtechnik des Einigens – in Form von Hände schütteln – vorgetragen. Wir kennen den Zufall als Grundbaustein unzähliger Spiele, aber sind uns kaum bewusst welche kulturelle Errungenschaft die Kultivierung des Zufalls für die Menschheit bedeutet hat um Entscheidungen an eine externe Macht abzugeben. Mit “heiligem Ernst” (Huizinga) würdigen wir den Losentscheid als eine Institution, die wir über unsere individuellen Wünsche stellen und eine eigene Form von Gerechtigkeit induziert.

Losen gibt es fast nur im Deutschen als Verb. In den meisten anderen Sprachen wird ein Objekt „das Los“ – dem diese besondere Bedeutung zugesprochen wird – geworfen oder gezogen und bezieht damit sowohl eine Aktion ein. Wir wissen, dass niemand „den Kürzeren ziehen“ will, aber warum ist unser “Los im Leben” eigentlich unser Schicksal?

Laut Roger Caillois ist das Spiel mit dem Zufall (ALEA) eine einzig menschliche Spielform, während der Wettbewerb (AGON), das Schauspiel (MIMICRY) und der Rausch (ILINX) auch bei Tieren beobachtet werden kann.
Auch Tiere gehen spielerisch Risiken ein, wenn sie von Liane zu Liane springen oder sich in den freien Fall oder in Wellen werfen, um sich mit einem Adrenalin-Kick berauschen zu lassen (ILINX). In unserem Sprachgebrauch und unserer Gedankenwelt verschwimmen oft Konzepte von Risiko, Unsicherheit, Glück, Zufall, und Wahrscheinlichkeit. Doch die Kultivierung von Alea (von dem lateinischen Wort für Würfel) ist eine zutiefst menschliche Form bewusst Handlungsmacht (Agency) abzugeben. Wir können es als eine ludifizierte Form des Rausches beschreiben, und die geschichtliche Idee ist zutiefst verknüpft mit Aberglauben.

Moderne Experimente, etwa die Taubenversuche von Skinner und Ferster, zeigen die tiefgreifende Wirkung des Zufalls. Zufallsbasierte Belohnungssysteme führten zu enormem Engagement – bis hin zur Sucht. Tiere, ähnlich wie Menschen, reagieren stark auf variable Belohnungen. Das Gehirn ist darauf programmiert Muster im Chaos zu erkennen, denn es hat uns das Überleben gesichert.

Die vorherrschende akademische Annahme ist, dass Lospraktiken ihren Ursprung in der Wahrsagung haben, „Kleromantie“ genannt. Nun ist hervorzuheben, dass eben das altgriechische Wort für das Los „Kleros“ eben auch die Wortwurzel für den Klerus ist. Der göttliche Zusammenhang ist also in unserer Sprache durchaus eng verwoben. In der griechischen Antike fand das „Kleruchie“-System Athens Anwendung zur Zuteilung von Land, und in der attischen Demokratie wurden Mandate mittels dem Kleroterion zugelost.

Bereits in den aller ältesten schriftlich erhaltenen Mythen der Menschheit werfen die Götter Lose, um das Universum aufzuteilen. Jedoch nicht um das Schicksal zu befragen, sondern um Besitz gerecht zu verteilen. Dies spiegelte das mesopotamische Erbrecht wider: Hier wurden Erbteile aufgeteilt bis man sich geeinigt hat, dass alle Teile gleichwertig waren und dann zufällig vergeben. Dadurch haben nämlich alle Beteiligten ein Interesse daran, im Vorfeld eine möglichst gerechte Aufteilung zu erzielen. Dadurch entsteht ein kollektives Gleichheitsprinzip, denn niemand will letztlich Gefahr laufen und den Kürzeren ziehen. Damit soll auch weiterer Groll bestmöglich vermieden werden. Diese Praxis schuf Vertrauen und Fairness in der Gemeinschaft. Es ist eine geniale Kulturtechnik, um Entscheidungen zu externalisieren, und damit für alle gleich zu halten. Sie war also zum Zeitpunkt der ersten Schriften in Mesopotamien als sich Sesshaftigkeit und Landbesitz durchsetzen, bereits längst etablierte Praktik. Wurde einem also das Land am Wasser, am Weideland oder im Wald zu gewiesen, so war man und seine Nachkommen wohl auch eher, Fischer, Hirte oder Jäger. Es war sein Schicksal, sein Los im Leben.

In der Bibel verwendete die Priesterklasse im alten Israel, die „Urim und Thummim“ um große Entscheidungen zu treffen, wie welcher Stamm in den Krieg ziehen muss eingesetzt zur Entscheidung über göttlichen Willen – war kein profanes Losverfahren. Es stellte eine Form der göttlichen Beratung dar, eingebettet in religiöse Rituale und Priestergewänder (Ephod). Die genaue Funktionsweise ist unbekannt, aber die Entscheidungen waren stets eindeutig, und nicht weiter interpretierbar.

Es etablierte sich erst dass ein zufällig erzeugtes Ergebnis von Gott kommt. Doch aus Sicht von Huizinga ist dieser heilige Ernst erst notwendig gewesen um sich auf bestimmte Ergebnisse zu einigen. Ohne diesem wären es sinnentleerte Stöckchen oder Knochen ohne Bedeutung. An diese Bedeutung, wie auch Ergebnisse haben sich alle zu halten. Zu bedeutsam ist es für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, Entscheidungen so zivilisiert zu externalisieren. Ist es die Geburt von Gott? Dem Allmächtigen.

Gelost wurde wohl mit einer Vielzahl an Objekten, aus denen man eines oder mehrere auswählt. Bis man diese Idee auf ein einzelnes Objekt reduziert, bedarf es wohl wiederum nicht Brainpower, sondern Zufall. Es hat ein eindeutiges, quantifizierbares Ergebnis, das keiner weiteren Interpretation bedarf. Astragale finden wir 5000 v. Chr. Die ersten 6-seitigen Würfel 3000 v. Chr. Mit einem Würfel finden wir wohl einen erstmaligen klaren Design-Gedanken eines Objekts zur Zufallsgenerierung. Und das noch vor der Entwicklung der Schrift. Ebenso zeugen die Zuweisungen der Zahlen 1 und 6 sowie 3 und 4 auf die Seiten der Astragale auf ein gutes Verständnis von Wahrscheinlichkeit hin. Doch mathematisch formalisiert wurde es erst im 16. Jahrhundert in Europa, nachdem Zahlensymbole, Brüche und die Arithmetik ersonnen waren, und sich italienische Mathematiker den Kopf zerbrachen, wie Glückspielgewinne am gerechtesten aufgeteilt werden sollen, wenn man nicht zu Ende spielt.

Solch quantifizierbarkeit.

Wir werfen Würfel oder Astragale. Wir werfen also ohne Ziel. Im deutschen Sprachgebrauch werfen wir auch eine Münze, obwohl das englische Wort „flipping“ besser zu der Aktion passt. Cowrie Muscheln, Nussschalen (ich halte bis heute die “neue” Rechtschreibung nicht aus) oder gespaltene Hölzer werden geworfen, um simple binäre Ergebnisse zu generieren. Wir drehen ein Glücksrad oder eine Roulette-Scheibe, in die wir eine Kugel rollen. Im I Ching teilen wir eine fixe Anzahl an Stäben wahllos in der Mitte und sortieren diese dann systematisch in drei Haufen, um einen Code zu generieren. Wir ziehen Lose oder Lotto-Kugeln, bevor wir diese in einem Behälter geschüttelt und vermischt haben. Eigentlich wählen wir damit etwas aus. Wir treffen eine Entscheidung. Dass wir markierte Pfeile aus einem Köcher gezogen haben.

Das meiste was als „Kleromantie“ also die Wahrsagung durch Lose bezeichnet wird, ist wohl treffender eine Klero-Literae-mantie, da diese meist auf Symbole, Verse oder Textstellen verweisen, die dann interpretiert werden. Aber ein einfaches quantifizierbares Ergebnis birgt wenig Spielraum für Interpretationen. Als in Douglas Adams der Supercomputer als Antwort auf Alles, den Sinn des Lebens, das Universum, usw. mit 42 bezifferte, wusste die Menschheit wenig damit anzufangen.

Während unzählbare Gottheiten für das Glück angebetet wurden. Bei der Ernte, bei der Reise, im Kampf. Das Glück und Schiksal sind Göttinnen.

Die Göttin Fortuna und Justitia wurden blind dargestellt – Symbol für Unparteilichkeit. Im Unterschied zur Fairness des Wettbewerbs (Agon) repräsentiert das Losen eine andere Art von Gerechtigkeit: Nicht durch Leistung, sondern durch Gleichverteilung unter gleichen Bedingungen.

Mit der Etablierung des Schriftglaubens durch monotheistische Religionen wurden Lospraktiken zunehmend als heidnisch verurteilt. Besonders das Christentum lehnte Zufall ab: Der Gott des Christentums handelte nach göttlichem Plan, nicht nach Fortuna. Augustinus von Hippo stellte die Göttin des Zufalls lächerlich dar, um die Überlegenheit göttlicher Vorsehung zu betonen: Gott handle nicht blind, sondern gemäß einem verborgenen, aber festen Plan.

Dennoch blieb das Losen eine ambivalente Praxis: Thomas von Aquin erlaubte es in drei Kategorien – zur Streitbeilegung, zur Verteilung (ausnahmsweise) und zur göttlichen Befragung (in äußersten Fällen). Spiel als mögliche Anwendung wurde jedoch vollständig ignoriert.

Überlegen wir uns, dass all das, was wir heute durch die Kultivierung des Zufalls erreicht haben. Künstliche Intelligenz, Risikoanalysen für Investitionen, oder militärische Entscheidungen, Wetterberichte. Es entstammt aus Praktiken, die wir kultiviert haben um Entscheidungen zu fällen, Aufgaben zu zuweisen, und Eigentum zu verteilen, ohne dass jemand zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Fazit

Losen ist mehr als ein Spiel – es ist eine kulturelle Technik der Gerechtigkeit, der sozialen Organisation und der symbolischen Ordnung. Seine Geschichte zeigt, wie stark das Bedürfnis nach Fairness mit Zufall verknüpft ist – und wie Religion, Macht und Schrift versuchten, diesen Zufall zu kontrollieren oder zu verbannen.

Literaturverweise:

Johan Huizinga

Roger Caillois

Ulrich Schädler

Ivo Herzl


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