Paperwork vs. Paperplay

Die Mediengeschichte der Spielkarten als Machbarkeitsstudie einer kohärenten Ludologie auf Basis der Kulturtechnikforschung

“Paperwork vs. Paperplay” ist der Vorschlag für ein Folgeprojekt, das sich aus den Ludologischen Symposien ergab. Untersucht werden Spielkarten als kulturelle Interfaces zwischen Spiel, Arbeit und Wissen. Damit schreiten die Untersuchungen von den Verben, jenen Vektoren, die mit unterschiedlichen Spielobjekten gekoppelt werden können zu einem spezifischen Artefakt und die zahlreichen Möglichkeiten verschiedene Spieloperationen in einem Gegenstand zu kreuzen.

Spielkarten sind nicht nur als historische Repräsentation symbolischer Ordnungen, sondern hinblicklich ihrer gegenwärtigen Operationalität zu analysieren: Sie verbinden Zufall, Regel, Geste und Sinn. Besonders in Gamedesigns wie Deckbuildern hallt Wissen aus und über systematisches Probehandeln wider. Umgekehrt gehen kartengestützte Verfahren selbst in projektförmige Arbeit in bürokratischen Regimes ein. Kombiniert werden medienhistorische Zugänge für eine heuristische Modellbildung, um die Möglichkeit einer kritischen Ludologie auszuloten. Eine solche müsste auch Fragen interdisziplinärer Kulturwissenschaft aufgreifen, etwa zur Verkörperung von Wissen, zur Rekursivität medialer Praktiken und vorsprachliche Ordnungen. Spielkarten sind Grenzobjekte zwischen diesen Aspekten; zwischen analoger Haptik und digitalem Interface; zwischen Kontingenz und System.

Forschungsfrage/Forschungsziel

David Graeber (2015) erklärte, dass die allumfassende Bürokratisierung sich etwa an der Konjunktur des Begriffs “Paperwork” nachweisen lasse. Die Überforderung durch Papier selbst habe zugenommen – ganz zu schweigen von unzählbaren Anmeldeverfahren, die an Bildschirmen abgewickelt werden. Damit sind vor allem hypertrophe Effekte derzeitiger Herrschaftsverhältnisse markiert. Wörtlich genommen ist auch Spiel mit Karten dem Augenschein nach auch “Paperwork” und Spiel überhaupt mit Adorno (2012) gesprochen “das Nachbild unfreier Arbeit”.

Dazu wird hier die Aktualisierung der Geschichte der Spielkarten vorgeschlagen: Nicht nur die Provenienz des klassischen französischen Sets, seiner Abwandlungen (z.B. Tarot) und Design-Experimente (z.B. Edita Mosers Entwürfe). Ein flüchtiger Blick in derzeitige Trends des Spieldesigns bezeugt Einfallsreichtum von kulturwissenschaftlicher Relevanz. Ein ganzes Genre – Deckbuilding – lebt von laufender Anpassung des Kartensatzes. So begegnen virtuell auch den Spieler*innen von Computerspielen wiederum computergesteuerte Charaktere, die sie mit ihrem Deck herausfordern: wo es eigentlich ritterliche Queste abzuarbeiten gelte, vertreibt man sich Zeit per Kartenspiel. 

Ziel ist die mediengenealogische Kritik der Gegenwartskultur auf Basis der Spielkarte. Als Teil der langen Geschichte spielerischer Wissensvermittlung lässt sich die Medienarchäologie der Anschaulichkeit (Huber 2022) um eine Längsschnittstudie ergänzen, welche das spielerische Potential der “Epoche des Papiers” (Müller 2012) in seiner Gesamtheit ersichtlich macht. Die weiße Magie hallt nicht nur literaturgeschichtlich wieder, sondern ist auch Teil unseres “infraordinären” Alltags (Perec 1997). 

Die übergeordnete Forschungsfrage geht der Möglichkeit einer eigenständigen Spielwissenschaft nach, die zwischen etablierten Disziplinen nicht zur angemessenen Geltung kommt – vielleicht da ihr Gegenstand schwer zu fassen und überhaupt zu unernst ist? Könnte es sich bei der Spielkarte um solch ein prototypisches Objekt handeln, das “noch niemanden gehört” (Barthes 1972) – somit die Grundlage einer autonomen Ludologie bereitstellt? 

Wissenschaftlicher Kontext

Eine zentrale Debatte der (multidisziplinären) Game Studies ist die Kontroverse zwischen Ludologie und Narratologie (Frasca 2003, Aarseth 1997, Mukherjee 2015). Diese Lager sind fiktiv, aber weisen auf ein Ringen um disziplinäre Identität hin. Bogost’s “procedural rhetorics” (2007) führt zum Ende der Diskussion, ist aber in der Sache selbst eine unzureichende Erklärung. 

Der ökonomische Erfolg der Computerspiele legitimierte die wissenschaftliche Beschäftigung mit Spiel, doch verkomplizierte auch die Sachlage: Eine unübersichtliche Anzahl an audiovisuellen Komponenten und Interfaces ist zu Unterhaltungsprodukten verwoben. Diese konsumieren mitunter schon von Kleinkinder: drücken, steuern, klicken, etc. – das geht ganz ohne die Darstellungen, ob ihrer Aussagekraft zu würdigen; ohne, dass die konsumierten Spiele ‘gelesen’ werden.

Seit vormodernen Zeiten aber ist die Spielkarte aktiv als Spielzeug, Game-Interface und nun in Sammelkartenspielen auch als Tauschmedium. Ihr Gebrauch changiert nach Roger Caillois’ (2001) Einteilung problemlos zwischen improvisatorischen Kartentricks (paidia) und strukturierter Spielregel (ludus). Mit ihr lassen sich Zufall, Fingerfertigkeit und taktisches Geschick zugleich modulieren. Sie koppelt simple Spieloperationen – stapeln, abheben, anlegen, in einer Kartenhand verbergen, umdrehen zu komplexen Spielformen und Variationen. “Paperplay” ist in seiner Gesamtheit als Kulturtechnik verständlich, für welche rekursive Pragmatik charakteristisch ist (Macho 2007), in der Spielwissen prozessiert wird: durch Karten wird spielen gespielt – ein geeignetes Untersuchungsobjekt, um Huizingas These vom Ursprung der Kultur im Spiel mit medienhistorischem Material zu unterfüttern. Spielerische Performance ist mehr als kulturelle Repräsentation. Solche Ludologie ließe sich nicht allzu sehr von den Resultaten zeichenhafter Sinnproduktion ablenken, sondern stellt auf die dieser vorausgehenden „notwendigen Unsinnigkeit“ der dinglichen Handhabe scharf.

Spiel und Arbeit in Digitaler Kultur

Im Papierwissen des Kartenspiels überlagern sich exemplarisch Spiel und Arbeit: Wie in Dokumenten prozessiert man Informationen durch ablegen, sortieren, enthüllen (Gitelman 2014). In eins fallen Paperplay und Paperwork in der Dating-App Tinder: Sie macht den Smartphone-Bildschirm zur obersten Karte des zu sortierenden virtuellen Stapels. Dieses Prinzip wurde auf andere Bereiche, wie Stellenanzeigen übertragen. Nun arbeiten Jobsuchende fragliche Angebote wie einen Talon durch. Die Grenzen zwischen zwischen ludischem Handeln und ökonomischem Kalkül verschwimmen so wie zwischen den grundverschiedenen Angelegenheiten, wie es Partner- und Jobwahl sind.

Diese Transformation betrifft insbesondere Wissenspopularisierung und Ausbildung: Ein marktfähiges Bild des verkörperten Wissens zeigt sich etwa in Kartendecks, die in analogen Sets ganze Bücherregale zu „handgreiflichen“ Lernmedien kondensieren. (z.B. versprechen https://pipdecks.com/ versprechen “Expert knowledge in your back pocket.”) Hier werden Komplexitätsreduktion, Gamifizierung und der Glaube an erfahrbares Wissen zu zentralen Momenten eines postdisziplinären Lernbegriffs, der sich nicht mehr an Bildungskanon oder Fächerlogik, sondern an der “user experience” orientiert.

Ein Anlass zur Selbstreflexion eigener Forschungspraxis, die iterativ und spielähnlich organisiert ist. Die Entwicklung (künstlerisch-)wissenschaftlicher Projekte ähnelt der Game Design-Logik: Ideen testen, verwerfen, kombinieren. Dementsprechend sind auch Forschungsdesigns fragmentiert, anwendungsorientiert, temporär finanziert und damit weniger etablierten Instituten verpflichtet – Spiel mit Wissen, aber auch Arbeit an und mit seinen Bedingungen.

Die Spielkarte als Verdichtung von Arbeit, Spiel und Wissensordnung exemplifiziert deutlich ein Prozessieren schweigenden Wissens (Polanyi 2016, Collins 2010). Laut Pias (2010, 12) sind wir längst alle Computerspieler und am Kartenspiel erprobt man weiterhin die Verfeinerung der Handhabe von Informationstechnologie. 

Methode und Erkenntnisinteresse

Zweierlei Bewegungen sind “für die Mediengenealogie konstituierend: Das ‘Schwimmen’ im Meer der ‘notwendigen’ Bedingungen [eines gegebenen Falls], genauso wie die beherzte Auswahl ‘ausreichender’ Linien.” (Apprich & Bachmann 2017, 418) Ersteres entspricht dem Feld spielerischen ‘Missbrauchs’ sämtlicher materieller Kultur (1.); die Spielkarte stellt die Abstammungslinie, deren Historisierung (2.) ein Medium hervorbringt, anhand dessen ein spielerischer Gebrauch kultiviert wird: durch Generierung künstliche Konflikte (game design) im Kartenformat wird stillschweigend Wissen prozessiert (3.), das es braucht, um überhaupt am Spiel teilzunehmen und damit empirische Masse zur Untersuchung liefert.

  1. Kulturtechnikforschung erlaubt systematisches Spekulieren entlang “primitiver Techniken” (Siegert 2020), die in Kartenspielen zum Einsatz kommen. Elementare Operationen (stapeln, mischen, abheben, austeilen, ziehen, ablegen; vgl. auch www.ludology.uni-ak.ac.at) als rekursive Prozesse der Bedeutungsgenerierung im Bezug auf Körper, Raum und Kollektive (Dünne et al., 2020)
  2. Historisierung der Anschaulichkeit: Im Blockdruck entsteht die Spielkarte als normiertes Artefakt, in dessen Verbreitung sich das Potential von Papier offenbart und damit seine Medien-Werdung in Bereichen wie Typographie, Verwaltung und Akademie – herkömmliches Spiel tradiert durch das schriftbildliche Kompositum von Buchstaben, Zahlen und Bildern (Krämer et al. 2012).
  3. Ergänzung durch ethnografische Feldforschung: Analyse von Designpraktiken in gegenwärtigen Communities als kontextgebundene, situiert verkörperte Wissensform. Interessant scheint uns hier insbesondere, wie unter Game Designer*innen Karten eingesetzt werden, um neue Prototypen zu entwickeln, diese zu testen, um so neue Spiele zu erspielen.

Die angestrebte Erkenntnis liegt in der Entwicklung einer Heuristik zur Beschreibung spielbasierter Wissenspraktiken – mit besonderem Augenmerk auf vor-diskursiver Handhabe. Allerlei Phänomene der Spielkultur können zwischen Spieltrieb (paidia), Regelsystem (ludus) und Simulation (strategic play) verortet werden, um unabhängig vom Trägermedium als Teil des Forschungsgebiets mit entsprechender Relevanz positioniert zu werden. So kann ein Kartensatz mal als Spielzeug gelten, als Interface oder als probabilistisches Modell für Probehandlungen.

Interdisziplinäre Dimension

Die Forschung bewegt sich im Schnittfeld von Medien-Kulturwissenschaft, Wissensgeschichte, Game Studies, Designforschung. Methodologische, fachpolitische und kommunikations-pragmatische Konsequenzen, die sich aus dieser Interdisziplinarität ergeben, dürfen nicht ausgespart werden

Exemplarisch für eine potentielle Ludologie werden der Materialität, Ordnung und Verkörperung von Wissen nachgespürt; einer Schnittstelle zwischen Spiel und Ernst, zwischen Kontingenz und System. Kritische Spielwissenschaft erscheint als Reflexionsform der Gegenwart, die hierarchisierte, schulische Institutionen der Vermittlung und die algorithmisch-undurchsichtige Wissensarchitektur digitaler Plattformen gleichermaßen problematisiert. Ein gründliches Studium des Spiels erlaubt innovative Perspektiven auf Wissen als ein kulturtechnisch hergestelltes Verhältnis von Körper, Raum und Kollektiven. Vice Versa wäre die Profilierung der kulturstiftenden Funktion des Spiels für die Kulturwissenschaften vorteilhaft, indem ihre “Grenzenlosigkeit” eingehegt wird – die in Aleida Assmanns Darstellung (2010) wie die Game Studies unentschieden zwischen Archäologie und Erzählung oszilliert. 

Literatur

Aarseth, Espen J. 1997. Cybertext: perspectives on ergodic literature. Baltimore, Md: Johns Hopkins University Press.

Adorno, Theodor W. 2012. Ästhetische Theorie. Herausgegeben von Gretel Adorno. 19. Aufl. Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Apprich, Clemens, und Götz Bachmann. 2017. „Mediengenealogie. Zurück in die Gegenwart digitaler Kulturen“. In Digitalisierung: Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung, herausgegeben von Gertraud Koch, 405–25. Konstanz München: UVK Verlagsgesellschaft.

Assmann, Aleida. 2016. „Die Grenzenlosigkeit der Kulturwissenschaften“. Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 1 (1): 39–48. https://doi.org/10.1515/kwg-2016-0005.

Barthes, Roland. 1972. „Jeunes chercheurs“. Communications 19 (1): 1–5. https://doi.org/10.3406/comm.1972.1276.

Bateson, Gregory, Alexander R. Galloway, Hans W. Hofmann, Erkki Huhtamo, Robert Pfaller, Eva Horn, Jürgen Fritz, u. a. 2007. Escape! Computerspiele als Kulturtechnik. Herausgegeben von Claus Pias und Christian Holtorf. Illustrated Edition. Köln: Böhlau Verlag.

Bickenbach, Matthias. 2023. Bildschirm und Buch: Versuch über die Zukunft des Lesens. 1. Aufl. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

Caillois, Roger. 2001. Man, Play and Games. Univ of Illinois Pr.

Collins, H. M. 2010. Tacit and explicit knowledge. Chicago ; London: The University of Chicago Press.

Dünne, Jörg, Kathrin Fehringer, Kristina Kuhn, und Wolfgang Struck, Hrsg. 2020. Cultural Techniques: Assembling Spaces, Texts & Collectives. Berlin: De Gruyter. https://doi.org/10.1515/9783110647044.

Frasca, Gonzalo. 1999. „Ludology meets Narratology. Similitude and differences between (video)games and narrative.“ 1999. http://www.ludology.org/articles/ludology.htm.

Gitelman, Lisa. 2014. Paper Knowledge. Toward a Media History of Documents. Sign, Storage, Transmission. Durham; London: Duke University Press.

Graeber, David. 2015. The Utopia of Rules: On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy. First Melville House paperback printing. Brooklyn, NY London: Melville House Publishing.

Huber, Simon. 2022. „Die Emergenz der Anschaulichkeit in Comenius’ Orbis pictus (1658)“. Wien: Universität für Angewandte Kunst.

Huizinga, Johan. 2009. Homo Ludens: Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 21. Aufl. Hamburg: rororo.

Krämer, Sybille, Eva Christiane Cancik-Kirschbaum, und Rainer Totzke, Hrsg. 2012. Schriftbildlichkeit: Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operarativität [i.e. Operativität] von Notationen. Schriftbildlichkeit, Band 1. Berlin: Akademie Verlag.

Lantz, Frank. 2023. The Beauty of Games. 1. Aufl. Cambridge, Massachusetts London, England: The MIT Press.

Macho, Thomas. 2007. „Tiere zweiter Ordnung. Kulturtechniken der Identität“. In Der Mensch: ein „animal symbolicum“?: Sprache, Dialog, Ritual, herausgegeben von Heinrich M. Schmidinger und Clemens Sedmak, 51–66. Topologien des Menschlichen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Mukherjee, Souvik. 2015. Video Games and Storytelling: Reading Games and Playing Books. 1st ed. 2015 Edition. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: New York, NY: Palgrave Macmillan.

Müller, Lothar. 2012. Weisse Magie. Die Epoche des Papiers. München: Carl Hanser Verlag.

Perec, Georges. 1989. L’infra-ordinaire. La Librairie du XXe siècle. Paris: Seuil.

Pias, Claus. 2010. Computer Spiel Welten. 2. Aufl. Zürich: Diaphanes.

Polanyi, Michael. 2016. Implizites Wissen. 2. Auflage. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 543. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Sennett, Richard. 2024. Der darstellende Mensch: Kunst, Leben, Politik. Übersetzt von Michael Bischoff. 1. Auflage. München: Hanser Berlin.

Siegert, Bernhard. 2020. „Attached: The Object and the Collective“. In Cultural Techniques: Assembling Spaces, Texts & Collectives, herausgegeben von Jörg Dünne, Kathrin Fehringer, Kristina Kuhn, und Wolfgang Struck, 131–40. Berlin: De Gruyter.

Tekinbaş, Katie Salen, Hrsg. 2008. The ecology of games: connecting youth, games, and learning. The John D. and Catherine T. Macarthur Foundation Series on Digital Media and Learning. Cambridge, Mass: MIT Press.

Zimmermann, Olaf, Felix Falk, und Deutscher Kulturrat e.V. 2020. Handbuch Gameskultur. Berlin: Deutscher Kulturrat. https://www.kulturrat.de/publikationen/handbuch-gameskultur/.